Blick ins Ausland: Digitale Bürgerbeteiligung in Island
Robert Bjarnason ist Stadtplaner und CEO der Citizens Foundation in Island. Er war zu Gast beim zweiten Stadtgespräch der EnBW und berichtete von seinen Onlineplattformen „Better Reykjavik“ und „My Neighbourhood“, die Bürgerinnen und Bürgern ein Mitspracherecht bei lokalpolitischen Entscheidungen geben. In Deutschland läuft Bürgerbeteiligung – wie beispielsweise am Stöckach – weitestgehend analog. Ein Grund, um nach Island zu blicken: Wir haben uns mit Robert über die Möglichkeiten digitaler Partizipation unterhalten.
Was ist die Citizens Foundation und welche Mission verfolgt sie?
Die Citizens Foundation ist eine Non-Profit-Organisation, die ich 2008 mitgegründet habe. Die Finanzkrise hat Island damals hart getroffen und die Bevölkerung protestierte auf den Straßen. Innerhalb von zwei Wochen herrschte Ausnahmezustand; das Vertrauen in das Parlament war gebrochen. Als Antwort darauf haben wir unsere Organisation ins Leben gerufen. Die Mission war und ist es, Bürgerinnen und Bürgern eine Stimme zu geben und der Politik dadurch zu helfen, Steuergelder sinnvoll und bevölkerungsnah einzusetzen. Wir glauben, dass Schwarmintelligenz viel bewirken kann – doch hierfür muss jede Stimme gehört werden.
Wie lassen Sie Bürgerinnen und Bürger konkret zu Wort kommen?
Mit „Better Reykjavik“ haben wir eine kollaborative Website entwickelt, die den Bewohnerinnen und Bewohnern der isländischen Hauptstadt ein Mitspracherecht gibt: Jedes Projekt, das die Stadt umsetzen möchte, kann online mitverfolgt und bewertet werden. Konkret geht es darum, über Ideen zu debattieren und abzustimmen – sei es das Bildungssystem, Religionsfreiheit oder die Unterstützung von Obdachlosen. Ideen können eingebracht, positiv oder negativ bewertet, nicht aber direkt kommentiert werden. Stattdessen ist es möglich, seine Meinung in Form eines Gegenarguments einzubringen. So ermöglicht unsere Plattform eine konstruktive Debatte und verhindert Anfeindungen. Selbst zu sensiblen Themen wie Religionsfreiheit kommen kaum unangebrachte Argumente auf, die gegen unsere Netiquette verstoßen. Die Menschen lernen wieder, die Meinungen anderer nachzuvollziehen und zu akzeptieren.
Neben „Better Reykjavik“ ist auch „My Neighbourhood“ ein Projekt der Citizens Foundation. Worum geht es hierbei?
Während sich „Better Rekyavik“ verschiedensten Projekten widmet, fokussiert sich das Projekt „My Neighbourhood“ auf die Stadtentwicklung. Dafür haben wir 2011 eine Art Budget-Planspiel entworfen und mit ihm bereits 900 Projekte umgesetzt – die mit den Einwohnerinnen und Einwohnern demokratisch ausgewählt wurden. Die Stadt Reykjavik fordert hierfür regelmäßig Ideen der Bevölkerung ein, die in der Regel einer bestimmten Budgetgrenze unterliegen. Für jede Projektidee soll eine Begründung mitgeliefert werden, weshalb eine Investition an dieser Stelle sinnvoll ist. Im Anschluss identifiziert die Stadt jene Vorschläge, die solide und umsetzbar sind. Die ausgewählten Projekte werden evaluiert, kalkuliert und dann auf der Website veröffentlicht. Nutzerinnen und Nutzer der Plattform sehen, wie viel Budget für die Stadtentwicklung im Jahr insgesamt zur Verfügung steht, wie viel die einzelnen Projekte kosten und welche Ideen jeweils dahinterstecken. Auf dieser Basis können sie auswählen, für welche Ideen die vorhandenen Steuergelder verwendet werden sollen. Mit jeder Auswahl schrumpft das verbleibende Gesamtbudget – so wird deutlich, mit welchen Investitionen selbst einfache Vorhaben wie etwa die Installation einer Parkbank verbunden sind.
Zusätzlich haben Nutzerinnen und Nutzer die Möglichkeit, mit Vor- und Nachteilen für oder gegen ein Projekt zu argumentieren oder Sterne für besonders tolle Ideen zu vergeben. All das fließt in die abschließende Auswahl der Projekte ein, die umgesetzt werden. Letztes Jahr gab es über 1.100 eingereichte Ideen und weit über 6.000 abgegebene Stimmen. Von neuen Straßen über Skateboard-Parks bis hin zu Graffiti-Kunst war alles dabei. Am Ende des Tages geht es um eine bessere Verwendung der Steuergelder und darum, das soziale Leben in der Stadt zu bereichern.
Welches Potenzial haben digitale Partizipationsmöglichkeiten?
Wir glauben, dass Demokratie dringend ein Upgrade braucht. Wie Winston Churchill 1947 schon sagte, „Demokratie ist die schlechteste aller Regierungsformen – abgesehen von all den anderen Formen, die von Zeit zu Zeit ausprobiert worden sind“. Damit die Demokratie überleben und aufblühen kann, müssen wir sie modernisieren und Steuergelder sinnvoller einsetzen. Hierfür kann Technologie hilfreich sein. Mit den Open Source-Plattformen geben wir den Isländerinnen und Isländern eine Stimme – vor allem aber ermöglichen wir eine konstruktive Debatte. Es geht bei uns nicht darum, wer in der Bar am lautesten schreit. Jeder hat die Möglichkeit sich einzubringen und kann sich Gehör verschaffen – dafür muss man sich aber die Mühe machen, ein Pro- oder Contra-Argument abzugeben. Diese Mechanik erlaubt daher ausschließlich eine konstruktive Debatte und unterscheidet sich zum Beispiel von Diskussionen auf Facebook. Dort herrscht teilweise ein sehr aggressives Klima, eine wirklich vergiftete Kommunikationskultur. Gleichzeitig sind die sozialen Medien aufgrund der Algorithmen wie ein leerer Raum, in den hineingeschrien wird: Beiträge sind schnell nicht mehr sichtbar, Meinungen werden nicht gehört. Das Internet macht die Welt immer komplexer – daher braucht es Lösungen, um es sinnvoll zu nutzen. Mit den Plattformen der Citizens Foundation ist uns das gelungen.
Fällt es euch schwer, die Bürgerschaft für die Partizipation zu begeistern?
Nein, die Beteiligung ist seit Beginn sehr hoch und wächst kontinuierlich: Letztes Jahr verzeichneten wir die höchste Partizipation auf „Better Reykjavik“ seit dem Launch der Website – 25.000 registrierte Nutzerinnen und Nutzer mit einer aktuellen Beteiligungsrate von 20 Prozent. Natürlich machen wir durch Marketing auf die Plattformen aufmerksam, aber die Leute sind ohnehin sehr motiviert. Viele freuen sich über den offiziellen Kanal, um ihre Meinung kundzutun. Was hierfür elementar ist: Die Projekte müssen auch wirklich umgesetzt werden, am besten relativ zeitnah. Und auch wenn eine Idee nicht umgesetzt werden kann, muss verständlich erklärt werden, weshalb. Dann akzeptieren die Menschen die Entscheidung. Die Evaluation jeder Idee und die Rückmeldung an die Bürgerschaft nehmen natürlich viel Zeit in Anspruch – die Stadt Reykjavik beschäftigt hierfür mittlerweile zehn Mitarbeiter. Aber diese Kommunikation ist das A und O und Teil des Lernprozesses, um digitale Partizipation auch in Zukunft erfolgreich umzusetzen.
Robert Bjarnason ist Stadtplaner und CEO der Citizens Foundation in Island. Er war zu Gast beim zweiten Stadtgespräch der EnBW und berichtete von seinen Onlineplattformen „Better Reykjavik“ und „My Neighbourhood“, die Bürgerinnen und Bürgern ein Mitspracherecht bei lokalpolitischen Entscheidungen geben.