Wie viel Strom benötigt Deutschland heute? Zu welcher Tageszeit? Und wie viel Strom werden die Erneuerbaren Energien erzeugen? Mit diesen und vielen weiteren Fragen beschäftigen sich Stromproduzenten, Energieversorger und Netzbetreiber in Deutschland ständig. Denn schwankt die Frequenz im Netz zu stark, ist die Versorgungssicherheit gefährdet.
Deshalb müssen Stromproduzenten und Energieunternehmen den vier großen Übertragungsnetzbetreibern jeden Tag ihren „Fahrplan“ schicken - also wie viel Strom sie einspeisen und entnehmen werden. Doch nicht immer läuft alles nach Plan: mal schiebt sich ungeplant eine Wolke vor die Sonne und die Stromerzeugung aus Photovoltaik bricht ein. Oder die Menschen benötigen zu einer bestimmten Zeit mehr Strom als gedacht. Dann greifen Übertragungsnetzbetreiber auf Regelenergie zurück, um das Netz zu „retten“.
Was ist Regelenergie?
Regelenergie (auch Regel- oder Reserveleistung genannt) ist Energie, mit der Netzbetreiber in Echtzeit unvorhergesehene Schwankungen im Stromnetz ausgleichen. Sie wird von den Kraftwerksbetreibern vorgehalten und auf Anordnung der Übertragungsnetzbetreiber zur Verfügung gestellt. Man unterscheidet zwischen positiver (Einspeisung zusätzlichen Stroms bei einem Defizit) und negativer Regelenergie (Drosselung der Einspeisung bei einem Überschuss).
Wie hängen Redispatch und Regelenergie zusammen?
Zwar dienen beiden Maßnahmen dazu, die Stabilität des Stromnetzes sicherzustellen, allerdings funktionieren sie auf unterschiedliche Weise und werden in verschiedenen Situationen eingesetzt.
Welche Arten von Regelenergie gibt es?
Die Primärregelleistung wird als erstes eingesetzt, wenn die Netzfrequenz kurzfristig schwankt. Sie muss innerhalb von 30 Sekunden vollständig erbracht sein und wird europaweit kontinuierlich eingesetzt. Dazu führen Anbieter eigene Netzfrequenzmessungen am Erzeugungs- und Verbrauchsort durch. Wird eine Abweichung in der Netzfrequenz erkannt, reagieren sie automatisch.
Nach der Primär- springt die Sekundärregelleistung ein. Sie gleicht die Systembilanz in einer Regelzone aus. Verantwortlich dafür sind die Übertragungsnetzbetreiber. Sie ermitteln den Regelzonensaldo – also die Differenz zwischen den geplanten und tatsächlichen Strommengen. Ist die Bilanz unausgeglichen wird automatisch Sekundärregeleistung angefordert: positive, falls mehr Strom verbraucht als erzeugt wird. Negative, wenn es einen Einspeiseüberschuss gibt. Beide müssen innerhalb von fünf Minuten von den Anbietern erbracht werden.
Die Minutenreserve wird für den Ausgleich größerer Systemungleichgewichte genutzt. Sie wird als einzige manuell von den Übertragungsnetzbetreibern abgerufen und muss innerhalb von 12,5 Minuten vollständig erbracht werden. Anders als die Primär- und Sekundärregelleistung kommt sie aber eher selten zum Einsatz.
Stundenreserve gehört nicht zur Regelenergie
Die Stundenreserve gehört übrigens nicht zum Bereich der Regelenergie. Sie ist eine Notfallmaßnahme und kommt zum Zug, wenn eine Frequenzschwankung nicht innerhalb von 60 Minuten durch die Primär-, Sekundär- oder Minutenreserve ausgeglichen werden konnte. Ein Auslöser für die Stundenreserve kann zum Beispiel der Ausfall eines kompletten Kraftwerksblocks sein. In diesem Fall ist nicht der Übertragungsnetzbetreiber, sondern der Verursacher der Schwankung dafür verantwortlich, das Gleichgewicht im Stromnetz wiederherzustellen. Zum Beispiel, indem er eigene Kraftwerke außerhalb des Regelenergiemarkts hoch- oder runterfährt oder Fehlmengen über den Spotmarkt an der Strombörse beschafft.
Wer stellt Regelenergie zur Verfügung?
Regelenergie kann von Erzeugern und Verbrauchern bereitgestellt werden, sofern sie schnell und flexibel einsetzbar sind. Nicht jede Anlage bringt allerdings die technischen Voraussetzungen dafür mit und erfüllt die hohen IT-Sicherheitsanforderungen. Meist stammt die Regelenergie aus großen Gaskraftwerken, Pumpspeicherkraftwerken, und Blockheizkraftwerken. Batteriespeicher werden vor allem zur Bereitstellung von Primärregelleistung eingesetzt und liefern bereits einen Großteil der benötigten Menge. Aber auch Industrieunternehmen mit flexibel steuerbarem Verbrauch können durch eine Reduzierung oder Erhöhung ihrer Stromaufnahme zur Stabilisierung des Netzes beitragen.
Aktuell gibt es rund 40 Energieunternehmen mit einer Regelreserveleistung von fast 25 Gigawatt, die als Anbieter für die verschiedenen Regelenergiearten von den Übertragungsnetzbetreibern präqualifiziert und zugelassen sind.
Regelenergie aus Erneuerbare-Energien-Anlagen
Erneuerbare-Energien-Anlagen spielen bisher noch eine untergeordnete Rolle im Regelenergiemarkt. Das liegt vor allem daran, dass Wind und Sonne nicht zu 100 Prozent vorhersagbar sind und die technischen sowie betrieblichen Anforderungen für die Zulassung als Regelenergie-Anbieter sehr hoch sind. In Kombination mit Technologien wie Batteriespeichern, digitalen Steuerungssystemen und im Verbund als virtuelle Kraftwerke können aber auch sie am Regelenergiemarkt teilnehmen. Vorausgesetzt der Anlagenpool hat eine Leistung von mindestens einem Megawatt, was dem Mindestgebot am Regelenergiemarkt entspricht.
Wie funktioniert der Regelenergiemarkt?
Regelenergie wird von den Übertragungsnetzbetreibern regelzonenübergreifend und teilweise in Kooperation mit den Nachbarländern beschafft. Gehandelt wird nicht an der Strombörse, sondern über eine separate Online-Plattform der Übertragungsnetzbetreiber. Teilnehmen können nur präqualifizierte Anbieter. Es gibt zwei Märkte: einen für Regelleistung (dem Vorhalten von Energie) und einen für Regelarbeit (der Lieferung von Energie):
- Auf dem Regelleistungsmarkt findet für alle drei Regelenergiearten täglich eine Ausschreibung für den Folgetag statt. Ausgeschrieben werden sogenannte Zeitscheiben: Dabei setzt sich jeder Tag aus sechs Blöcken mit jeweils vier Stunden zusammen, beginnend von null bis vier Uhr. Jedes vom Übertragungsnetzbetreiber bezuschlagte Angebot wird mit dem Regelleistungspreis vergütet.
- Danach öffnet der Regelarbeitsmarkt: Dort wird die tatsächlich aktivierbare Regelenergie für die Sekundär- und Minutenreserve beschafft. Anbieter mit einem Zuschlag aus der vorherigen Ausschreibungsrunde, sind verpflichtet teilzunehmen. Gehandelt werden 15-Minuten-Produkte. Alle Gebote werden aufsteigend nach Höhe des Arbeitspreises sortiert und als Merit-Order-Liste an die Abrufsysteme der Übertragungsnetzbetreiber weitergegeben. Abgerufen werden sie entsprechend der Kosten: vom günstigsten zum teuersten.
Hat ein Anbieter einen Zuschlag bekommen, muss er im Betrieb Regelleistung vorhalten bzw. die abgerufene Regelarbeit auch liefern.
Wie wird Regelenergie vergütet und wer trägt die Kosten?
Die Preise für Regelenergie schwanken stark und sind in der Regel höher als am regulären Strommarkt (dem „Energy-Only-Markt“). Sie setzen sich aus dem Leistungs- und dem Arbeitspreis zusammen: Der Leistungspreis wird für die Bereitschaft gezahlt, im Bedarfsfall einzuspringen. Tritt dieser ein und die Regelleistung wird abgerufen, erhalten Anbieter zusätzlich einen Arbeitspreis. Dabei sind die Übertragungsnetzbetreiber angehalten, möglichst kostengünstig abzurufen – das gilt sowohl für die automatisch als auch manuell abgerufene Regelleistung.
Die Kosten für das Vorhalten von Regelleistung tragen die Übertragungsnetzbetreiber. Finanziert werden sie über die Netzentgelte, die Teil des Strompreises sind. Die Kosten, die durch aktivierte – also abgerufene Regelleistung – entstehen, geben die Übertragungsnetzbetreiber in Form der sogenannten Ausgleichsenergie an die Verursacher weiter. Dafür gibt es den regelzonenübergreifend einheitlichen Ausgleichsenergiepreis (reBAP).
Welche Aufgabe hat der Ausgleichsenergiepreis?
Der regelzonenübergreifend einheitlichen Ausgleichsenergiepreis (reBAP) wird von den Übertragungsnetzbetreibern alle 15 Minuten neu ermittelt und monatlich in Rechnung gestellt. Er basiert auf den tatsächlichen Kosten für die eingesetzte Regelenergie und kann sowohl positiv als auch negativ sein. Der reBAP dient nicht nur der Abrechnung. Er sorgt auch dafür, dass Marktteilnehmer offene Positionen in ihrer Strombilanz selbst über den Handel schließen, bevor die Übertragungsnetzbetreiber zum Einsatz von Regelenergie greifen müssen.
Wie groß ist der Bedarf an Regelenergie?
Der Bedarf für die Primär- und Sekundärreserve ist in den letzten 14 Jahren nahezu unverändert geblieben. Das zeigen die Ausschreibungen der Übertragungsnetzbetreiber. Im Fall der Primärreserve liegt es an der gleichbleibenden Bedarfsermittlung im europäischen Verbundnetz, die gemäß der Referenzstörung systematisch auf ± 3.000 Megawatt festgelegt ist. Bei der Sekundärreserve sind es gegenläufige Effekte, die den Bedarf konstant halten: Der Ausbau der Erneuerbaren erhöht den Bedarf, die verbesserte Prognosequalität mindert ihn.
Anders sieht es bei der Minutenreserve aus: hier sinken die ausgeschriebenen Mengen seit 2014. Im Jahr 2024 waren es nur noch 600 Megawatt. Das liegt u.a. daran, dass Bilanzkreisverantwortliche kurzfristige Ungleichgewichte effizienter und kostengünstiger über den Intra-Day-Markt der Börse ausgleichen können.
Quelle: Monitoringberichte der Bundesnetzagentur
Ausblick
Durch die Energiewende verändert sich die Struktur der Stromerzeugung: Immer mehr Strom in Deutschland stammt aus Erneuerbaren Energien - im letzten Jahr fast 60 Prozent. Der Bedarf an Lösungen, die den Umgang mit Schwankungen im Stromnetz verbessern oder sie gar verhindern, wird wichtiger werden. Ob das automatisch zu einem höheren Bedarf an Regelenergie führt? Durch den Ausbau der erneuerbaren Energien könnten Prognoseunsicherheiten bzw. -abweichungen zunehmen, was zu einem höheren Regelenergiebedarf führen könnte. Bessere Prognoseverfahren, der Trend zur Eigennutzung – insbesondere von Solarstrom - und Neuerungen im Marktdesign könnten das aber ausgleichen.